Einleitung
AIRA ist der bekannteste Fernassistenzservice für blinde Menschen und Menschen mit Sehbehinderung und operiert vorwiegend in den USA. Das Unternehmen wurde 2015 gegründet, ursprünglich mit der Idee, blinden Menschen und Menschen mit schwerer Sehbehinderung über KI zu assistieren. Der Service wurde später auf menschliche Assistenz umgestellt.
In den Anfangsjahren wurde dabei immer wieder Forschung zur Nutzung von AIRA betrieben und auch öffentlich publiziert. Die Ergebnisse möchte ich für die interessierte Community hier einmal beispielhaft darstellen und zusammenfassen.
Die Zahlen: Nutzungshäufigkeit, Anrufdauer, Anwendungsfälle
Insgesamt ist die Studienlage dünn und die drei hier betrachteten Veröffentlichungen stammen zu weiten Teilen vom gleichen Autor:innenteam. Für die Veröffentlichung „Large-scale assessment of needs in low vision individuals using the Aira assistive technology“ von Ngyuen et al. (2019) wurden Daten von 878 Abonnenten des AIRA Service und ihren über 10.000 Anrufen im Jahr 2017 ausgewertet.
Anwendungsfälle
Die drei häufigsten Anwendungsbereiche waren Lesen (35 %), Navigation (33 %) und Hausmanagement (16 %). 60,7% der Navigationsanrufe betrafen die Navigation im Außenbereich. Im Detail verbergen sich hinter den Kategorien Themen wie:
- Lesen: Vorlesen von Rechnungen oder Beschriftungen auf Produkten oder Medikamenten.
- Navigation: Orientierung im Außenbereich, z.B. beim Erkennen von Schildern oder Auffinden von Gebäuden, sowie im Innenbereich, z.B. in Bahnhöfen oder Einkaufzentren.
- Hausmanagement: Haushaltsaufgaben wie Aufräumen und Sortieren oder Haushaltsgegenstände identifizieren.
Anrufdauer
Die durchschnittliche Anrufdauer lag bei Frauen etwas höher (10 Minuten und 18 Sekunden) als bei Männern (8 Minuten und 40 Sekunden). Die Verteilung der Anrufe wurde kategorisiert in „Lang“ (über 9 Minuten), „Mittel“ (3 bis 9 Minuten) und „Kurz“ (weniger als 3 Minuten). Die Verteilung war recht ausgeglichen: Bei Frauen 36,2% lang, 33,5% mittel und 30,2% kurz. Bei Männern 30,5% lang, 36% mittel und 33,4% kurz.
Blinde Nutzer:innen nutzten das System häufiger (1,68-fach) als Nutzer:innen mit geringer Sehfähigkeit. Die Anrufe der blinden Nutzer:innen dauerten im Durchschnitt länger (9 Minuten und 44 Sekunden) als die der Nutzer:innen mit Lichtwahrnehmung (9 Minuten und 7 Sekunden) oder geringer Sehfähigkeit (8 Minuten und 1 Sekunde).
Eine weitere Kategorie betraf die Tageszeit: „Morgens“ (3 Uhr früh bis 11:59), „Nachmittags (12:00 bis 16:59) und „Abends“ (17:00 bis 24:00). Morgens fanden 44.4% (Frauen) bzw. 42.6% (Männer) der Anrufe statt, im Nachmittag 37.5% bzw. 37.4% und am Abend 18.1% bzw. 20.0%. Ca. ein Viertel der Anrufe fand am Wochenende statt.
Ergebnisse in Bezug zur Lebensqualität der Nutzer:innen
Neben den reinen Nutzungszahlen sind messbare Auswirkungen auf die Lebensqualität der Menschen von besonderem Interesse. Damit beschäftigten sich zwei Studiem. Die erste Veröffentlichung mit dem Titel „Improvement in Patient-Reported Quality of Life Outcomes in Severely Visually Impaired Individuals Using the Aira Assistive Technology System” (Nguyen et al.) stammt aus dem Jahr 2018. Dabei wurden 69 Teilnehmende rekrutiert mit einem Durchschnittsalter von 52,1 Jahren. Alle hatten eine schwere Sehbehinderung und waren Abonnenten des AIRA Service. Die Teilnehmenden wurden initial vor Aktivierung ihres AIRA Abos befragt und dann nochmal nach rund 3 Monaten. Das Messinstrument war der sogenannte „Impact of Vision Impairment-Very Low Vision“ (IVI-VLV)-Fragebogen, der speziell für Menschen mit schwerer Sehbehinderung entwickelt wurde. Damit soll die Lebensqualität in den Bereichen „Aktivitäten des täglichen Lebens“ und „emotionales Wohlbefinden“ gemessen werden. Eine Frage lautet beispielsweise: „Im letzten Monat, wie oft hat Ihre Sehbehinderung Sie besorgt oder ängstlich gemacht in Bezug auf das Überqueren der Straße?“ Antwortmöglichkeiten: „Gar nicht“, „Ein wenig“, „Einige Male“, „Sehr oft“ oder „Ich mache dies aus anderen Gründen nicht“.
Durch zweimalige Befragung vor Abschluss des AIRA Abos und nach ca. drei Monaten wurde geprüft, ob mit der Nutzung des Service eine Verbesserung der wahrgenommenen Lebensqualität eintrat. Und dies geschah tatsächlich: Der Gesamtscore des IVI-VLV-Fragebogens verbesserte sich signifikant von 51,7 auf 62,2 Punkte und somit um gut 20%. Es bestand keine Korrelation zwischen der Nutzungsdauer von Aira (Im Durchschnitt 334,1 Minuten in rund 3 Monaten) und den Verbesserungen im Gesamtscore.
Die Autor:innen schlussfolgern: Die Nutzung des Aira-Systems führte zu einer signifikanten Verbesserung der Lebensqualität bei Menschen mit schwerer Sehbehinderung. Sie führen dies u.a. auf die Wirksamkeit der menschlichen Unterstützung und die Rolle des Systems als „Sicherheitsnetz“ zurück.
Die Untersuchung wurde fortgesetzt und im Jahr 2020 publiziert unter dem Titel „Quality of Life Assessment of Severely Visually Impaired Individuals Using Aira Assistive Technology System“ (Park et al., 2020). Dabei wurden die Proband:innen aus der ersten Studie noch einmal befragt, diesmal mit einem Abstand von ca. einem vollen Jahr. Der Gesamtscore des Fragebogens stieg auf im Schnitt 63.1. Das entspricht weitestgehend einer Stabilität des Ergebnisses nach den ersten drei Monaten (62.2). Die durchschnittliche Nutzungsdauer pro Monat sank von 120.3 auf 99.8 Minuten. Diesmal wurde zudem eine signifikante Korrelation zwischen Nutzungsdauer und Verbesserungen im Score festgestellt. Dabei gilt jedoch zu beachten, dass eine reine Korrelation wenig überraschend ist, denn wer von den Probandinnen keine Steigerung der Lebensqualität durch den Service feststellen konnte, wird diesen vermutlich auch weniger benutzt haben.
Auf Basis dieser Ergebnisse bleibt festzuhalten, dass die Nutzung von Fernassistenz Services im Schnitt zu einer signifikanten Steigerung der wahrgenommenen Lebensqualität führt. Weitere Fragen bleiben jedoch vorerst offen. Ich wünsche mir weitere Forschung, insbesondere zu Erfolgsfaktoren und Hemmnissen der Adoption von Fernassistenztechnologien.
Quellen
Kathryn Park, Yeji Kim, Brian J. Nguyen, Allison Chen, Daniel L. Chao; Quality of Life Assessment of Severely Visually Impaired Individuals Using Aira Assistive Technology System. Trans. Vis. Sci. Tech. 2020;9(4):21. https://doi.org/10.1167/tvst.9.4.21. URL: https://tvst.arvojournals.org/article.aspx?articleid=2763503
Nguyen BJ, Kim Y, Park K, Chen AJ, Chen S, Van Fossan D, Chao DL. Improvement in Patient-Reported Quality of Life Outcomes in Severely Visually Impaired Individuals Using the Aira Assistive Technology System. Transl Vis Sci Technol. 2018 Oct 29;7(5):30. doi: 10.1167/tvst.7.5.30. PMID: 30386682; PMCID: PMC6205681. URL: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30386682/
Nguyen BJ, Chen WS, Chen AJ, Utt A, Hill E, Apgar R, Chao DL. Large-scale assessment of needs in low vision individuals using the Aira assistive technology. Clin Ophthalmol. 2019 Sep 20;13:1853-1868. doi: 10.2147/OPTH.S215658. PMID: 31571823; PMCID: PMC6759999. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6759999/